Trondheim-Oslo (Langstreckenradrennen)


Inzwischen habe ich das Rennen in den Jahren 1990, 1991, 1993, 1994 und 1995 alleine mit dem Rennrad, 1996 auf einem Renntandem zusammen mit Axel Fehlau, und 1998 wieder auf dem Rennrad mitgefahren. Waltraud hat sich 1998 auch zum ersten mal an diese Distanz gewagt.
Wieso seit dem nicht mehr? Wir haben uns auf noch längeren Distanzen eingeschossen

Erfahrungsbericht

Ich habe Durst. Der Gaumen ist trocken, und meine zwei Trinkflaschen sind leer. Zur nächsten Verpflegungsstation sind es etwa noch 25 Kilometer, also versuche ich die eigene Dehydrierung zu vergessen, fange an, meinen Rhythmus wiederzufinden, und denke an andere Dinge, zum Beispiel an Schlaf. Den habe ich bald genauso nötig - die Uhr zeigt 1:15. Ich fahre durch die Nacht. Da kommt auch mal wieder der Gedanke auf: Wozu mache ich das alles?

Norwegische Soldaten fahren auch mit (1993)

Auf dem Dovrefjell (1993)
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... und das Elchschild... (1993)
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Das wohl bekannteste Langstreckenrennen in Europa hat seinen eigenen Reiz und eine Anziehungskraft, die es mit keinem anderen Radrennen vergleichbar macht. Die Strecke von Trondheim nach Oslo ist alles andere als flach, und der nördliche Breitengrad bewirkt, dass man in 1.000 Metern Höhe neben Schneefeldern fährt. Zur Kälte und dem Wind gesellt sich das durch die Nähe zum Atlantik ver-ursachte, stets launenhafte Wetter. Geht es dann auch noch durch die Nacht, sind die physischen und psychischen Grenzen schnell erreicht. Die Distanz von 550 Kilometern schreckt natürlich nur noch die Neulinge. Alteinge"fahrene" Leidensgenossen wissen, dass das Rennen eigentlich erst ab Liliehammer (Km 360) beginnt. Das vorher Geleistete ist nur ein großer Ausflug. Dabei sollte ich mich nicht beschweren. Nehme ich doch zum fünften (!) Mal am "Store Styrkeprøven" teil und habe schon vieles erlebt. Da waren die Jahre '90 und '93 mit gutem Wetter in Trondheim und Regen in der Region Oslo. Oder die Rennen '91 und '94 mit Kälte, Regen und Wind. Besonders im vergangenen Jahr war es einfach brutal. Der Sturm auf der Hochebene Dovrefjell hatte mich von der Seite gepackt und den 1,5 Meter tiefen Straßendamm hinuntergeworfen. Ganze Pulks fuhren ineinander, weil die Fahrer ihre Lenker in den Böen nicht mehr halten konnten. Dazu kamen teilweise Dauerregen und eine ekelhafte Kälte. Ich erinnere mich noch an den Moment, als ich in eine Verpflegungsstation einfahren und runterschalten will. Aber die Finger waren nicht mehr in der Lage, den Hebel zu bedienen. Und wie sieht es in diesem Jahr aus?

Auf der E6 von Trondheim nach Oslo (1995)

so macht's Spass (1995)
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Zieleinfahrt in Oslo (1995)
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Ich freue mich, als hätte ich das Ziel schon erreicht. Cirka zwei Stunden hinter Trondheim verdünnt sich die morgendliche Bewölkung, und es wird ein traumhafter Tag mit diesem Blau am Himmel, das so typisch für den Norden ist. Ich bekomme immer wieder Begeisterungsschübe, verschärfe mein Tempo unbewusst und ziehe ständig meine kleine Kamera aus der Trikottasche. Die Freunde, mit denen ich um 8:48 Uhr gestartet bin, habe ich längst verloren. Die Gruppe um Axel Fehlau ist bereits am Ortsrand von Trondheim davon geschossen. Mit ihren heckverkleideten Liegerädern wollen sie an die 15-Stunden-Marke herankommen. Ich möchte den Schnitt von 30 km/h nicht zu stark überschreiten, dafür lieber am Ende den Rest an Power raushauen. So fahre ich erst mal eine Zeit lang alleine gegen den Luftwiderstand an. Der Wind ist vernachlässigbar. Ich komme gut voran, aber 1.4 Liter sind viel zu schnell ausgetrunken, und ich muss nach 136 Kilometern an der zweiten Station anhalten. Schnell noch etwas Festes reinstopfen und zwei Bananen ins Trikot stecken, dann geht's zehn Minuten später weiter. Ich bin wild darauf, ins Hochland zu kommen. Nach 160 Kilometern habe ich den höchsten Punkt erreicht. Auf den Parkplätzen stehen die Begleitfahrzeuge dicht an dicht. In der Regel braucht man hier oben auf der Hochebene etwas Warmes, Regen- und Winddichtes. Stattdessen wird diesmal in kurzen Ärmeln übers Dovrefjell gewetzt. Auf 1,050 Metern Höhe ist ein großes Zelt aufgebaut. Ich bunkere erneut Bananen und Flüssigkeit, werfe zwei Scheiben Brot ein und jage wieder davon. Ich bin derartig begeistert von der Landschaft, dem Wetter und meiner Geschwindigkeit, dass ich übermütig werde. Ich drücke am Straßenrand stehenden Touristen meine Kamera in die Hand, wende und fahre noch mal an ihnen vorbei. Seit ich dieses Rennen fahre, bin ich immer wieder erstaunt, mit welcher Begeisterungsfähigkeit es die Norweger schaffen, die Radfahrer aufzupeitschen. Ein Ruf wird zum Mittelpunkt aller Begegnungen längs der Piste: Heja-heja-heja! Die Einheimischen veranstalten Parties oder Grillabende in ihren Vorgärten, sitzen mit auf gedrehten Radios und vielen Flaschen Bier in Liegestühlen oder rufen fahnenschwenkend von ihren Balkonen. Die Adrenalinschübe sind eine prickelnde Abwechslung im gleichmäßigen Rhythmus des Vorwärtskämpfens. Dann kommt die Abfahrt nach Kvam. Fast 75 Kilometer geht es bergab. Am Anfang natürlich sehr steil und gefährlich. Da kommt jetzt mein 4.9er Übersetzungsverhältnis zum vollen Einsatz. Bei 85 km/h überholt mich keiner mehr. An einer Getränkestation flitze ich mit 40 Sachen vorbei. Nach zehn Stunden und fünf Minuten bin ich in Kvam bei Kilometer 280. Die Hälfte der Strecke liegt schon hinter mir - ebenso auch die langen, energieraubenden Anstiege.
An der Verpflegungsstation treffe ich Julia aus meinem Startpulk. Sie fährt mit ihrem Liegerad zum ersten Mal bei diesem Radmarathon und hofft, unter 24 Stunden zu bleiben. Wir setzen uns für eine halbe Stunde, plaudern ein wenig, massieren die Füße und versuchen, einiges an fester Nahrung aufzunehmen. Langsam aber sicher hört der Magen auf, Hungergefühle zu entwickeln, die Geschmacksnerven sind taub, und die Kau- und Schluckmechanismen verweigern ihren Dienst. Wer sich aber seiner Appetitlosigkeit hingibt, wird schnell - zu schnell - merken, dass er große Probleme bekommt. Merkt man, dass sich der Hunger einstellt, ist es bereits zu spät. Ein Leistungsabfall ist dann nicht mehr zu verhindern. Ich fühle mich fit und sehe keine Probleme, hinter Lillehammer das Rennen "starten" zu können.
Inzwischen haben wir unsere wärmere Bekleidung angezogen und fahren in die Nacht. Die nächsten drei Stunden sind die härtesten des Rennens. Jetzt gilt es, den toten Punkt zu überwinden. Ab 1 Uhr früh stecke ich mir die Kopfhörer meines Discman in die Ohren und lasse rockige Musik dröhnen. Die Nacht ist warm und trocken - keine Wolke am Himmel. Ich träume vor mich hin, summe mit der Musik oder versuche, die Landschaft im Dunkeln zu erkennen. Der monotone Rhythmus der Atem- und Trittfrequenz befördert mich in eine Art Trance. Ich bin von meiner Außenwelt abgeschnitten, kenne nur noch eine Welt: mein Fahrrad und mich.

Das Rennen aus der Perspektive des Stokers Axel Fehlau (1996)

Heisse Suppe an einer Verpflegungsstation... (1996)
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Axel Fehlau und Andy mit dem Renntandem (1996)
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Drei Uhr früh. Noch cirka 30 Kilometer oder eine Stunde bis zur Verpflegungsstation in Vikselv. Ich bin jetzt schon 19 Stunden unterwegs und spüre noch kein Zeichen von Kraftlosigkeit. Ganz im Gegenteil. Ich habe das Gefühl, mit meiner Energie bisher zu gut gehaushaltet zu haben. Dagegen kann man etwas tun: Tempo verschärfen! An der Station gönne ich mir zehn Minuten Aufenthalt, stecke noch zwei Bananen in die Tasche und nasche mal an einem Käsebrot. Schnell sitzen wir wieder auf den Rädern. Also raus auf die Piste und beschleunigen. Es geht leicht einen Berg hinunter, was mir hilft, meinen Tritt- und Atemrhythmus wiederzufinden. Aber der Körper reagiert nach 450 Kilometern ohnehin wie eine Maschine. Ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, bin ich wieder bei meiner Fahrtgeschwindigkeit. Dann plötzlich die Wendung bei diesem Radmarathon: ein Schild mit dem Aufdruck "100 km til Oslo". Ab jetzt wird rückwärts gezählt, und dazu noch zweistellig. Außerdem wird es langsam hell, was zusätzlichen Auftrieb bringt. Vor mir liegt der Wille, einen 100-Kilometer-Schlußsprint hinzulegen! Die Kilometer reduzieren sich. Ich erinnere mich an eine Trainingseinheit von 90 Kilometern. Dann an eine von 80. Was sind schon 70 Kilometer? Bei 60 weiß ich: nur noch zwei Stunden bis Oslo. Bei "50 km til Oslo" ist noch mal eine Futterstation für die, die für die letzten Berge keine Kraft mehr haben. Bis hierher hat ein einzelner Fahrer es geschafft, mich zu überholen. Jetzt biegt er ab. Ich habe noch eine Banane, einen Energieriegel und etwa einen halben Liter Wasser - das muss reichen. Mit cirka 33 km/h fahre ich auf die 40-Kilometer-Markierung zu. Die Hügel werden immer ärgerlicher. Kaum noch eine flache Strecke. Der Morgendunst lichtet sich, und die Sonne fängt wieder an, einen heißen Sommertag herunterzubrennen. Kurz hinter Klöfta wagen es vier Fahrer, mich zurückzulassen. Ich werde nervös, verschalte mich an einem Berg, und mit einem Schlag sind sie 50 Meter vor mir. O.k. Ich muss mich sammeln und zur gewohnten Form finden. Wäre doch gelacht. Aber ein anderes "Problem" tritt auf: Die Blase meldet sich, und ich muss anhalten. Das zweite Mal seit Trondheim...

Andy und Frank (1993)

Ein Pulk an Rennfahrern (1993)

Fahren in die Nacht (1996)
Im Nahbereich von Oslo sind noch mal drei ganz gemeine Wadenbeißer zu schaffen. Vor allem der vorletzte Anstieg im Stadtgebiet hat es in sich. Inzwischen wird auch die Sonne zur Plage. Die Thermowäsche unter dem Trikot ist mehr als lästig. Außerdem habe ich noch immer meine helle Brille von der Nachtfahrt auf und bin jetzt zu faul, für eine Stunde die Gläser zu wechseln. Also Augen zu und durch. Der letzte Schluck aus der Flasche ist getan und die letzte Banane hinuntergewürgt. Das nächste halbe Jahr esse ich bestimmt keine Bananen mehr. Dann sehe ich wieder zwei der vier Fahrer von vorhin. Jetzt aber los! Hab sie am Berg klassisch abgeledert.
Dann eine super Abfahrt auf einer vierspurigen Straße. Ich rase alleine auf einen Kreisverkehr zu. Bevor der Rennhelfer die Arme geschwenkt hat, bin ich auf der anderen Seite schon abgebogen. Mit 60 km/h brettere ich nach Oslo hinein. Mein Tacho zeigt 550 Kilometer an. Von den letzten Jahren weiß ich, dass es noch zwei Kilometer sind. Dann noch mal ein Kreisel. Hier nach rechts abbiegen. Die Ordnungshüter feuern mich an. Hinter mir kein weiterer Fahrer. Ich kann also alleine über die Ziellinie. Ah! Da ist schon das Eisstadion in Sicht. Zweimal noch um die Kurve und auf die Zielgerade. Ich werde das Tempo nicht verlangsamen. Die Zuschauer sollen ja auch ihren Spaß haben. Ich habe jetzt 23 Stunden Spaß gehabt und freue mich auf eine Dusche und einen Plausch mit den anderen Radfahrern. Ich fahre durchs Ziel, in der einen Hand den Foto, mit der anderen Hand eine Spur auf den Teer schmierend. Vollbremsung. Von 35 auf 0 in drei Sekunden. Die Leute haben was zu Lachen. Ich steige gar nicht vom Rad, sondern fahre direkt auf den Parkplatz zu unserem Auto. Ich hole mein Handtuch und wanke zur Dusche. Ein wenig Pudding ist schon in den Knien.
Wenn die stressige und sehr teure Anfahrt mit Auto, Fähre und Zug nicht wäre, würde ich mit Begeisterung jedes Jahr wieder mitfahren. Aber eines ist klar: jeder nur halbwegs auf Kondition ausgerichtete Radfahrer sollte einmal dieses "große Kräftemessen" mitgefahren sein. Es ist es wert. Mit allem, was dazugehört.

Hintergrund-Information zu Trondheim Oslo

Das Rennen findet immer am Mittsommerwochenende statt. Anmeldungen sind ab Dezember möglich und erfolgen durch die Überweisung der Startgebühr. Gestartet wird ab 8 Uhr früh alle zwei Minuten im einem Pulk von je 70 Fahrern. Die Räder müssen mit Licht ausgestattet sein, Helm ist ebenfalls Pflicht. Triathlonlenker und ähnliches sind seit 1991 verboten. Liegeräder inzwischen auch, was man so hört. Rucksäcke, Koffer etc. mit dem Gepäck werden per Lkw von Trondheim nach Oslo gebracht und dort nach Startnummern wieder ausgegeben. Das Ziel in Oslo war früher an einer Schule. Hier gab es genug Duschen, eine große Essensausgabe und eine Turnhalle, wo Matratzen zum Schlafen bereitlagen. Inzwischen ist das Ziel im Hafen von Oslo (noch mal 2 km längere Rennstrecke durch die Stadt), wo die Infrastruktur für die Fahrer relativ schlecht organisiert ist.
Die Begleitfahrzeuge müssen angemeldet sein und unterliegen eigenen Regeln. Da auf den kurvigen Strecken ein Überholen der Fahrerpulks oft nicht möglich ist, bilden sich riesige Fahrzeugschlangen der Begleitfahrzeuge. Das führt oft zu riskanten Manövern und Belastungen für die Radfahrer. Daher wird dringend empfohlen, ohne Begleitfahrzeug das Rennen anzugehen, mit dem Zug von Oslo nach Trondheim zu fahren und das Auto am Ziel oder gar in Kiel stehen zu lassen. In einem kleinen Rucksack bekommt man Werkzeug, Energieriegel, wärme und regendichte Bekleidung unter.
Höhenprofil von Trondheim-Oslo

Links zu Trondheim-Oslo

Den Store Styrkeprøven
Ferries: Fjord Line and Color Line
Norwegian State Railway
Norway Bus Express
Norwegian Youth Hostel

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Vättern Rundan (300 km; Sweden)